Bild: Collage mit Hungermedaille auf die grosse Teuerung 1816/17, mit Ansicht der Stadt Frauenfeld

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Vs.: Umschrift: «ANDENKEN. VON DER GROSSEN THEURUNG. IM IAHR . 1817.», «N» in der Umschrift jeweils spiegelverkehrt. In Blattkranz und Kreislinie die Ansicht der Stadt Frauenfeld von Nordwesten her mit dem Schloss, der evangelischen Stadtkirche und der katholischen Stadtkirche St. Nikolaus, dazwischen ein turmartiges Gebäude mit Dachreiter. Oberhalb der Stadtansicht zwei gekreuzte Ährengarben. Die gekreuzten Garben werden von einer gebogenen Umschrift eingefasst: «GEDENKE DAS NOCH EIN GOTT IST», «N» in der Umschrift jeweils spiegelverkehrt.
Zinnmedaille umgeben von 16 bedruckten Papierstücken in Form von Blütenblättern mit Angabe der Höchstpreise für Lebens- und Futtermittel auf beigem Papier geklebt. Von oben im Uhrzeigersinn: «Höchste Preise / in Frauenfeld / im Juny 1817.; Ein Mütt Kernen (Dinkel) / 50 fl. (Gulden); Ein Viertel Roggen / 8 fl. (Gulden); Ein Mütt Erbsen / 32 fl. (Gulden); Ein Mütt Bohnen / 40 fl. (Gulden); Ein Pfund Kochgerste / 18 kr. (Kreuzer); Ein Viertel Hafer / 4 fl. (Gulden) 45 kr. (Kreuzer); Ein Pfund Brod / 27 kr. (Kreuzer); Ein Viertel Erdäpfel / 4 fl. (Gulden); Ein Pfund Rindfleisch / 15 kr. (Kreuzer); Ein Pfund Butter / 36 kr. (Kreuzer); Ein Centner Heu / 4 fl. (Gulden); Ein Pfund Reis / 24 kr. (Kreuzer); Ein Maass Wein / 1 fl. (Gulden); Ein Maass Birrenmost / 14 kr. (Kreuzer); Ein Pfund Käse / 36 kr. (Kreuzer)».
Das Jahr 1816 ging in weiten Teilen West- und Südeuropas sowie der USA als das «Jahr ohne Sommer» in die Annalen ein. Grund dafür waren die riesigen Mengen aus Asche- und Russpartikel, welche ein Jahr zuvor, im April 1815, beim Ausbruch eines Vulkans auf der Insel Tambora in Indonesien in die Atmosphäre gelangten und die Sonneneinstrahlung über längere Zeit reduzierten. Es war die grösste Eruption der Menschheitsgeschichte. Das Klima in Europa und auf dem nordamerikanischen Kontinent wurde davon massiv beeinflusst. Viel Regen, Kälte und Schnee waren die Folgen, was zu Missernten und einer damit einhergehenden Lebensmittelteuerung führte, weshalb die Preise um das Drei- bis Vierfache stiegen, verglichen mit jenen von 1815. Die Klimakatastrophe brach über eine Bevölkerung herein, die bereits ökonomisch geschwächt war, weil die napoleonische Handelssperre die Textilproduktion schwächte, da die dazu benötigte Baumwolle nicht mehr eingeführt werden konnte, weshalb den Fabrik- und Heimarbeitern die Arbeit ausging. 1814 schliesslich, als die Blockade aufgehoben wurde, waren die Erzeugnisse der heimischen Textilindustrie den günstigeren maschinell hergestellten englischen Produkten unterlegen. In der Schweiz war die Notlage vor allem im Osten verheerend, im Thurgau litten die Menschen besonders in der hügeligen Gegend um Fischingen an Hunger. Der Mangel trieb die Leidenden dazu, Kleie, Spelzen, weitere Müllereiabfälle, Kräuter und Grass zu essen. Es kam zu Plünderungen von Beinhäusern, um die Gallerte aus den Knochen der in den Burgunderkriegen (15. Jh.) Verstorbenen auszukochen.
Der Kanton Thurgau bot zögerlich Hilfe in Form von Suppenküchen und Kartoffellieferungen. Zar Alexander I. spendete 1817 dem Thurgau 4000 Rubel (ca. 12 000 zeitgenössische Schweizer Franken).
Erst der Ausbau des Schienennetzes für die Eisenbahn in der 2. Hälfte des 19. Jhs. ermöglichte es, klimabedingte Hungersnöte in Westeuropa zu minimieren, da es möglich wurde, grosse Mengen an Getreide aus weit entfernten Gebieten (Südrussland/Ungarn) innerhalb nützlicher Frist und zu günstigen Preisen in die von regionalen Missernten betroffenen Gebiete Westeuropas jederzeit einzuführen. Zusätzlich führte der zunehmende Einsatz des zu Beginn des 20. Jhs. entwickelten Kunstdüngers zu höheren Ernteerträgen.

Hungersnöte tangierten nicht nur die physische Existenz des Einzelnen, sondern stellten auch das bestehende, stets labile Gesellschaftssystem in Frage. Viele vom Hunger betroffene Menschen verloren ihre gesellschaftliche Stellung und sahen sich zum Betteln bzw. zur Auswanderung gezwungen. Die durch die Hungersnot erlittenen existentiellen Erfahrungen verstanden die Menschen als Strafe und Mahnung Gottes. In diesem Zusammenhang ist die Entstehung und Verbreitung solcher Hungermedaillen zu sehen, welche die Überlebenden sowie deren Nachkommen anhalten sollte, ein gottgefälliges Leben zu führen. Die vor Augen geführten horrenden Preise erinnern stets an das Unglück. Diese einseitig gefertigten und als Collage mit angeklebten Lanzettblättern zur Blüte gestalteten Medaillen wurden gerahmt im Haus aufgehängt.
Bekannt sind Hungermedaillen mit Stadtansichten von Zürich, Schaffhausen und Frauenfeld.
Gemäss Müller et al. 1992 dürfte dem Medailleur eine anonyme Radierung der Stadt Frauenfeld von 1797, die auf zeitgenössischen Gesellenbriefen erscheint, als Vorlage gedient haben.

Bis zur gesamtschweizerischen Einführung von Meter, Liter und Kilogramm ab dem 1. Januar 1877 waren in der Schweiz verschiedene Messsysteme üblich. Getreide wurde bis zur Mitte des 19. Jhs. nicht gewogen, sondern mittels Hohlgefässen abgemessen, wobei bis 1836 zwischen rauhen (Getreidekörner mit Hülsen) und glatten Früchten (entspelzte Getreidekörner) unterschieden wurde. Das Konkordat vom 17. August 1835 sah zum ersten Mal die Einführung einheitlicher Schweizer Masse und Gewichte für einen Grossteil der Deutschschweizer Kantone vor.

Die Thurgauer Währung wurde in Gulden und Kreuzer unterteilt, wobei 1 Gulden (fl.) = 60 Kreuzern (kr.) entsprach.

In der Stadt Frauenfeld galten 1817 folgende Masse und Gewichte:
1 Mütt Getreide = 4 Frauenfelder Viertel; 1 Frauenfelder Viertel glatt = 24,43 l; 1 Frauenfelder Viertel rauh = 28,61 l

1 Saum Wein = 4 klare Frauenfelder Eimer = 128 Mass = 512 Schoppen = 160,68 l; 1 Mass (klar) = 1,26 l

1 Saum Most = 4 trübe Frauenfelder Eimer = 128 Mass = 512 Schoppen = 170,68 l; 1 Mass (trüb) = 1,33 l

1 Handelspfund = 460 g; 1 Konstanzer Pfund = 576 g

1 Centner = ca. 46 kg
1817
Rahmen H. 22, B. 26 cm, Medaille D. 8 cm
Zinn, geprägt; Papier, gedruckt, gestanzt, geklebt; Holz, schellackiert (Rahmen); Glas
T 24546
Theodor Greyerz, Das Hungerjahr 1817 im Thurgau (Thurgauische Beiträge zur vaterländischen Geschichte, Bd. 57/58), 1918, S. 64–171.

Eduard Holzmair, Katalog der Sammlung Dr. Joseph Brettauer, Medicina in nummis, Wien 1937, Nr. 2019.

Anne-Marie Dubler, Masse und Gewichte im Staat Luzern und in der alten Eidgenossenschaft, Luzern 1975.

Ernst Müller, Hans E. Rutishauser, Margrit Früh und Alfons Raimann, Der Thurgau in alten Ansichten, Druckgraphiken von 1500 bis um 1880, Frauenfeld 1992.

Louis Specker, Die grosse Heimsuchung, Das Hungerjahr 1816/17 in der Ostschweiz (Neujahrsblatt, hrsg. vom Historischen Verein des Kantons St. Gallen, Bd. 133 und 135), Rorschach 1993 und 1995.

Historisches Museum Basel, Jahresbericht 1994, S. 41–42.

Beat Gnädinger, Gregor Spuhler, Frauenfeld, Geschichte einer Stadt im 19. und 20. Jahrhundert, Frauenfeld 1996, S. 50.

Historisches Museum Thurgau, Alles mit Mass? Eine Ausstellung des Historischen Museums des Kantons Thurgau im Schloss und in der Schlossremise in Frauenfeld 22. Juni bis 27. Oktober 2002, Frauenfeld 2002.

Fridolin Kurmann, Hungersnöte, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 16.02.2011. https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016226/2011-02-16/, aufgerufen am 20.06.2024.

Tobias Engelsing, Der gefährliche See, Wetterextreme und Unglücksfälle an Bodensee und Alpenrhein, Publikation zur gleichnamigen Ausstellung, Konstanz 2019, S. 63–71.

Stefan Keller, Spuren der Arbeit, Weinfelden 2020, S. 19–34.

Ruedi Kunzmann, Teuerungsmedaillen 1817/1819 von Zürich und Schaffhausen, Zeugen eines dramatischen Sommers, in: Sincona AG (Hrsg.), 10 Jahre Sincona AG, Zürich, Eine numismatische Festschrift, Regenstauf 2021, S. 117–126.
Schlagwörter: Numismatik, Kunsthandwerk, Zinn, Messwesen, Hauswirtschaft, Andenken, Erinnerung, Ereignis, Vedute