Gebärstuhl (Geburtsstuhl) aus Holz, im Stil des späten Biedermeiers

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Holzstuhl mit hochklappbarer Sitzfläche mit Aussparung. Die Rückenlehne mit gerundeter Abschlussleiste und Füllung aus horizontaler Sprossenleiter aus gedrechselten Stäben kann mittels Zahnraster nach hinten geneigt werden. Vertikale Streben der Rückenlehne oben mit je einem Ohr versehen (aus einem Stück geformt), Ohr auf der rechten Seite abgebrochen. Armlehnen des Stuhls mit aufgesetzten gedrechselten Knäufen zum Festhalten, davon nur einer erhalten. Zwei verstellbare Fussstützen in Form einer Schuhsohle.
Geburtshelfer in der Art eines dreibeinigen Schemels waren bereits in der Antike bekannt. Im 19. Jh. gehörte ein Gebär- oder Geburtsstuhl, auch Kreissstuhl genannt, zur Grundausrüstung einer Hebamme. Das althochdeutsche Wort Kreissen (Schreien) wurde ab dem 17. Jh. auf das Schreien der an den Geburtsschmerzen leidenden gebärenden Frau bezogen und ist heute noch in der Bezeichnung «Kreisssaal» zu finden.

Mit dem Leiterwagen brachte die Hebamme den Geburtsstuhl, der gelegentlich bei der Gemeinde aufbewahrt wurde, zur Hausgeburt mit. Seine Einzelteile waren verstellbar, Handhaben dienten dazu, sich festzuhalten. Die Sitzfläche war vorne ausgeschnitten, damit die Hebamme das Kind in Empfang nehmen konnte, während die Mutter auf dem Stuhl sass. Die sitzende Haltung der Gebärenden erleichterte es zwar dem Kind durch den Geburtskanal zu rutschen. Der Stuhl zwang die Frauen jedoch zum Stillhalten während der Geburtsschmerzen. Die Hebamme nahm das Kind gebückt oder sitzend in Empfang. Durch ständige Verbesserungen wurden die Geburtsstühle immer schwerer und immobiler und entwickelten sich so zu den stationären Entbindungsbetten im Spital.

Bis vor rund 100 Jahren war Geburtshilfe eine Frauenangelegenheit. Die meisten Geburten fanden zu Hause statt, in ländlichen Gebieten teilweise noch bis in die 1950er-Jahre.
In der ersten Hälfte des 20. Jhs. kamen die ersten Geburtskliniken auf. Mit der Medikalisierung der Geburt wurde der Beruf der Hebamme schrittweise von der Gynäkologie und damit der Geburtshilfe verdrängt. Geburtsbegleitung wurde zur Sache von Ärzten, weshalb die Geburtsstühle verschwanden, denn Frauen gebaren nun im Liegen, was den Ärzten eine angenehme Haltung ermöglichte.

Obwohl die meisten Frauen im Spital unter der Anleitung des medizinischen Personals gebären, entstanden ab den 1980er-Jahren die ersten Geburtshäuser in der Schweiz. Seit den 1960er-Jahren dürfen auch Väter bei der Geburt anwesend sein. Die Ausbildung zur Hebamme umfasst heute Praxis wie Theorie und nimmt medizinische Fortschritte laufend auf. Der Schweizerische Hebammenverband zählte 2024 rund 3500 Mitglieder, davon arbeiteten zwei Drittel als frei praktizierende Hebammen.
1860–1880
H. 113, B. 65, T. 110 cm
Nussbaum, lackiert; Stäbe und Knauf, gedrechselt; Scharniere und Beschläge aus Metall
T 27011
Jacques Gélis, Clemens Wilhelm, Die Geburt, Volksglaube, Rituale und Praktiken von 1500–1900, München 1989, S. 198–205.

Franziska Jenny, Hebammen im 19. Jahrhundert, in: bodenständig und grenzenlos: 200 Jahre Thurgauer Frauengeschichte(n), hg. vom Verein Thurgauerinnen Gestern – Heute – Morgen, Frauenfeld, 1998, S. 101–103.

Marie-France Vouilloz Burnier, Geburt, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 02.11.2010, übersetzt aus dem Französischen. https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016114/2010-11-02/, aufgerufen am 12.12.2024.
Schlagwörter: Gesundheitswesen, Hygiene, Beruf, Möbel