Infanteriegewehr mit Kippklappverschluss nach dem System Milbank-Amsler, Hinterlader der kantonalen Truppe, Modell 1817/1842/1859/1867, mit Stichbajonett, aus der Sammlung des Thurgauer Kantonalschützenverbands

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Aus einem Vorderlader mit Steinschloss, ab 1842 Perkussionsschloss, transformierter Hinterlader ab 1859 nach dem System Milbank-Amsler.

Runder Lauf mit vier Zügen, geschwungener Hahn mit geriffeltem Daumendrücker (Griffoptimierung), Piston. Verschluss mit Kugelkopf. Leiervisier mit Stellung für 400 bis 700 Schritt, Mückenkorn, erhabene Schlossplatte, schmales Schlossblech. Eisengarnitur aus doppelbändigem Oberband, Mittel- und Unterband, alle mit Federhalterung, Mittelband mit breitem Riemenbügel, rundem Abzugsbügel, angeschraubtem Bügelblatt mit zwei Querrippen (Griffoptimierung) und breitem Riemenbügel, geschraubter gerader Kolbenkappe. Eiserner Putzstock mit konischem Kopf. Voller Nussbaumholzschaft mit Backenausschnitt links auf Kolben und Kolbennase.

Schläge: Auf Schlossplatte Hersteller «J MALHERBE A LIEGE». Auf Schloss «STB». Waffennummer «1418» je auf Lauf (zwei Mal), auf Hahn und Kolben. Lauf mit St. Galler Wappenschild (Zeughaus St. Gallen, Besitzer), auf Kolben «ST. GALLEN». Diverse Kontrollstempel der eidg. Inspektoren: «D» unter Schweizerkreuz in Oval (ab 1869) je auf Lauf und Schloss, sowie Schweizerkreuz in Rund je auf Schloss und Visier (ab 1859). Auf Bügelblatt «P» in Kreis, Krone? über «G» sowie «G», auf Schraube von Bügelblatt Krone? über «F», auf Bänder je «AP», auf Ober- und Unterband «PO», auf Mittelband «GN».

Tüllenbajonett mit Dreikantspitze.
Schläge: Waffennummer «1870», «A», in Zierschrift «L» oder «P».
Jeder Schweizer Kanton war für die Bewaffnung seiner Infanteristen selbst verantwortlich. Im Thurgau bezog ein Soldat ab 1826 seine Waffe gegen Bezahlung vom Zeughaus in Frauenfeld, das 1820–1822 eingerichtet wurde. Wehrmänner, die sich keine eigene Waffe leisten konnten, bekamen diese leihweise vom Zeughaus in Frauenfeld ausgehändigt. Lieferanten der Gewehre waren hauptsächlich Manufakturen in Frankreich und Belgien wie die Waffenfabrik der Gebrüder Malherbe in Liège. In der Regel erwarb die zuständige kantonale Kommission das französische Modell von 1777, das 1801/02 optimiert wurde und dem eidgenössischen Reglement von 1817 entsprach. Im Thurgau kam es ab 1820 zum Einsatz.
Diese Vorderlader mit Steinschlosszündung, mit welchen die kantonalen Milizen bewaffnet waren, wurden nach den Beschlüssen des Bundesrats von Schweizer Waffenschmieden und den kantonalen Zeughäusern im 19. Jh. mehrmals optimiert, wobei ursprüngliche Bestandteile, die das eidgenössische Reglement von 1817 vorschrieb, belassen wurden. 1842 mit einer Perkussionszündung sowie 1859 mit einem gezogenen Lauf nach dem System Prélaz-Burnand (benannt nach den Waffentechnikern Joseph Prélaz und Edouard Burnand) versehen, wurden die Waffen 1867 nochmals signifikant umgestaltet und ertüchtigt. Die letztere Transformation war ein beachtliches Projekt, wovon über 133 000 Gewehre betroffen waren. Ausschlaggebend für dieses Unternehmen war der Preussisch-Österreichische Krieg von 1866, der die Überlegenheit der Hinterlader vor Augen führte. Deshalb wurden alle klein- und grosskalibrigen Gewehre (10.5 mm und 18 mm) zu einschüssigen Hinterladern umgebaut. Dieser Umbau nach dem System Milbank-Amsler war von eminenter Bedeutung. Sie ermöglichte eine wesentlich andere Kampfführung im Feld sowie das Laden in kniender oder sogar liegender Position. Mit diesem System des Mathematikprofessors Jakob Amsler-Laffon (1823–1912) aus Schaffhausen auf der Basis des amerikanischen Konstrukteurs J. M. Milbank konnte in die bestehenden Vorderlader ein Kippklappverschluss eingebaut werden, welcher das Laden von hinten mit einer Metall-Patrone ermöglichte. Mit diesen Neuerungen und der Randfeuerpatrone (Einheitspatrone mit Metallhülse) erhöhte sich die Schusskadenz von 3 auf 7 bis 12 Schuss in der Minute erheblich.
Ab 1872 kam es zur Ausmusterung dieser über 60 Jahre alten Gewehre. Bis 1888 waren sie Bestandteil der Kriegsreserve.

In der belgischen Stadt Lüttich (Liège) entwickelte sich seit dem 16. Jh. ein blühendes Gewerbe der Waffenschmiede. Stellten die Produzenten zuerst Kanonenläufe und Kugeln her, fertigten sie ab dem 17. Jh. Bestandteile für Handfeuerwaffen an. Ab 1672 prüfte ein offiziell bevollmächtigter Kontrolleur die Qualität der Läufe und versah sie mit einem gepunzten Gütezeichen (Beschau), das die Qualität der Ware garantierte. Jedoch erst ab 1810 durften nur noch begutachtete Produkte ausgeliefert werden. Die Waffenschmiede führten ihre Arbeit im Auftrag von Zwischenhändlern aus, die den Kontakt zu den Kunden pflegten.
Auch der russische Zar bezog Waffen vom belgischen Produzenten Malherbe und rüstete seine Armee 1843 mit 8000 Karabinern aus.

Das vorliegende Gewehr ist ein Geschenk des Thurgauer Kantonalschützenverbands, der seit 1835 besteht. Zum Gründungskomitee des Vereins gehörte auch Prinz Louis Napoléon Bonaparte. Der Ehrenbürger des Kantons Thurgau, Bewohner von Schloss Arenenberg und spätere französische Kaiser Napoléon III., wirkte von 1838–1839 als Vorstandspräsident.
2005 erfolgte die Umbenennung vom Schützenverein zum Kantonalschützenverband. Lange Zeit trugen Vereinsmitglieder Andenken und Ehrengaben von Schiessanlässen zusammen und legten ein umfangreiches Archiv an, zu dem Schenkungen und Nachlässe von regionalen Thurgauer Schützenvereinen kamen.

2016 ging der vielfältige Bestand von ca. 500 Objekten (u.a. Scheiben, Fahnen, Waffen, Gefässe, Medaillen) in den Museumsbesitz über. Einzelne Sammlungsstücke werden seit Jahren in der Schützenstube im ehemaligen Gasthaus Adler in Ermatingen ausgestellt.
Malherbe, Pierre-Josef, Waffenhersteller in Liège (Lüttich, BEL) (1830–1865)
1817–um 1872 im militärischen Einsatz
L. 145.5 cm, Lauf L. 101.5 cm; Bajonetts L. 52.5 cm, Klingenlänge 45 cm
Stahl, Eisen, Nussbaumholz
T 38683
Libausches Wochenblatt, Nr. 58, 21. Juli 1843. https://dom.lndb.lv/data/obj/file/6518575, aufgerufen am 08.11.2024.

Albert W. Schoop, Geschichte der Thurgauer Miliz, Frauenfeld 1948.

Hugo Schneider, Jürg A. Meier, Griffwaffen (Bewaffnung und Ausrüstung der Schweizer Armee seit 1817, Bd. 7), Dietikon-Zürich 1971, S. 160, Nr. 1.

Hugo Schneider, Michael am Rhyn, Eidgenössische Handfeuerwaffen(Bewaffnung und Ausrüstung der Schweizer Armee seit 1817, Bd. 2), Dietikon-Zürich 1979, 34–39, 45, 152, Nr. 2, 171.

Ernst Grenacher, Schweizer Militärgewehre Hinterladung 1860–1990, 2015, S. 64–65.
Schlagwörter: Militaria, Waffen, Gewerbe, Vereinswesen