Medaille: Hungermedaille auf die grosse Teuerung 1816/17, mit Ansicht der Stadt Zürich

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Vs.: Umschrift: «ANDENKEN. VON DER GROSSEN THEURUNG. IM IAHR 1817.», «N» und «S» in der Umschrift jeweils spiegelverkehrt. In Blattkranz und Kreislinie die Ansicht der Stadt Zürich vom See her mit dem Grendeltor, Wellenberg und den Kirchen Grossmünster, Fraumünster und St. Peter. Oberhalb der Stadtansicht fliegender Genius mit geschulterter Ährengarbe und Ährenhalm in der Hand. Der Genius wird von einer gebogenen Umschrift eingefasst: «SIHE. DAS NOCH EIN GOTT. IST -», «N und S» in der Umschrift jeweils spiegelverkehrt.
Medaille auf bedrucktes, orangefarbenes Gedenkblatt mit folgendem Text geklebt:
«Andenken / von der / grossen Theurung der Jahre 1816. und 1817. / im Canton Zürich. / Höchste Preise der unentbehrlichsten Lebensmittel im Juni 1817. / Ein Mütt Kernen (Getreide) / galt 43 fl. (Gulden) 30 Ss. (Schilling) / Ein Mütt Roggen, / 27 fl. / Ein Mütt Bohnen, / 27 fl. 20 Ss. / Ein Mütt Erbsen, / 30 fl. / Ein Mütt Gersten, / 23 fl. 20 Ss. / Ein ganzes Brot à / 4 1/2 lb. (Pfund) 1 fl. 11 Ss. / 1 lb. Schweine- / fleisch, 12 Ss. / 1 lb. Rindfleisch, / 7 1/2 Ss. / 1 lb. But- / ter, 27 Ss. / 1 lb. Reis, 14 Ss. / Ein Ey, 2 Ss. / Ein Viertel Erd- / äpfel, 3 fl. und / auch darüber; / es wurden so- / gar in Bergge- / genden gedörr- / te Erdäpfelhül- / sen das Viertel / à 25 Ss. verkauft. / Eine Mass Rinds- / blut, das vielen / Armen als Nahrung diente, 3 Ss. / Der Saum Wein, 40–120 fl. / Der Eimer Most, / 24 fl. / Haber, das Vtl. (Viertel) / 3 fl. / Heu, der Ctnr. (Centner) / 4–5 fl. / Bis zum Monat / May 1818. fiel der / Preis des ganzen / Brotes auf 15 Ss. / herunter. / Die Hohe Regierung des Standes Zürich (kursiv) gab im Jahr 1817. einen Vorschuss zu Fruchtankäu- / fen von 622,785 fl. Weil dieses Getreide unter dem gewöhnlichen Marktpreise verkauft wurde, / so zeigte sich ein Verlust von 120,233 fl. Nicht mitgerechnet den Ankauf der Früchte für das / Jahr 1818. bestehend in 5000 Zentner Getreide und 1200 Zentner Reis. / Von der Cantonal- Armenpflege (kursiv) wurden im Jahr 1816. für die Armen des Cantons 78,820 Fr. / verwendet. / Von der Zürcherschen Hilfsgesellschaft [kursiv] wurden, vom 1. Juli 1816. bis 30. Juni 1817. ausge- /theilt: 55,622 Portionen Suppen, 8134 ganze Brote, 835 fl. 32 Ss. an Geld. Nicht mitbegriffen / 34,838 Portionen Suppen, die gegen geringe Zahlung ausgetheilt wurden. Im Durchschnitt be- / trug die Zahl der unentgeldlich Unterstützten täglich 173 Personen. Nebst den im Kloster [kursiv] an / Reisende ausgetheilten Portionen Suppen, Brot und Geld, wurde von der Hilfsgesellschaft / noch, vom 1. Juli 1816. bis Ende Juni 1817. an Geld 5050 fl. 20 Ss., und vom 1. Juli bis Ende / December 1817. die Summe von circa 3000 fl. ausgetheilt. Dann 1473 Stück theils neue theils / alte Kleidungsstücke, 280 Ellen Nördlinger, Stumpenzeug, Zwilchen und Tuch, die in Obigem / nicht begriffen und nicht zu Geld angeschlagen sind. / Die Winterthurer Hilfsgesellschaft [kursiv] vertheilte an die Armen, vom 1. May 1816. bis den 1. Au- / gust 1817. die Summe von 12,478 fl. / Die öffentlich eingesammelten LIebessteuern des Standes Zürich (kursiv) betrugen: / Den 26. Januar 1817. 31,311 fl. 23 Ss. 11 hlr. (Haller) – Den 25. Januar 1818. 25,072 fl. 29 Ss. 10 hlr. / Ungeachtet dieser edeln Anstrengungen, war es unmöglich das Elend so zu mildern, dass nicht Viele, dem / Hungertode nahe, sich mit Kräutern und anderen, dem Menschen ungewohnten Speisen, nährten.»
Das Jahr 1816 ging in weiten Teilen West- und Südeuropas sowie der USA als das «Jahr ohne Sommer» in die Annalen ein. Grund dafür waren die riesigen Mengen aus Asche- und Russpartikel, welche ein Jahr zuvor, im April 1815, beim Ausbruch eines Vulkans auf der Insel Tambora in Indonesien in die Atmosphäre gelangten und die Sonneneinstrahlung über längere Zeit reduzierten. Es war die grösste Eruption der Menschheitsgeschichte. Das Klima in Europa und auf dem nordamerikanischen Kontinent wurde davon massiv beeinflusst. Viel Regen, Kälte und Schnee waren die Folgen, was zu Missernten und einer damit einhergehenden Lebensmittelteuerung führte, weshalb die Preise um das Drei- bis Vierfache stiegen, verglichen mit jenen von 1815. Die Klimakatastrophe brach über eine Bevölkerung herein, die bereits ökonomisch geschwächt war, weil die napoleonische Handelssperre die Textilproduktion schwächte, da die dazu benötigte Baumwolle nicht mehr eingeführt werden konnte, weshalb den Fabrik- und Heimarbeitern die Arbeit ausging. 1814 schliesslich, als die Blockade aufgehoben wurde, waren die Erzeugnisse der heimischen Textilindustrie den günstigeren maschinell hergestellten englischen Produkten unterlegen. In der Schweiz war die Notlage vor allem im Osten verheerend, im Thurgau litten die Menschen besonders in der bergigen Gegend um Fischingen an Hunger. Der Mangel trieb die Leidenden dazu, Kleie, Spelzen, weitere Müllereiabfälle, Kräuter und Grass zu essen. Es kam zu Plünderungen von Beinhäusern, um die Gallerte aus den Knochen der in den Burgunderkriegen (15. Jh.) Verstorbenen auszukochen.
Der Kanton Thurgau bot zögerlich Hilfe in Form von Suppenküchen und Kartoffellieferungen. Zar Alexander I. spendete 1817 dem Thurgau 4000 Rubel (ca. 12000 zeitgenössische Schweizer Franken).
Erst der Ausbau des Schienennetzes für die Eisenbahn in der 2. Hälfte des 19. Jhs. ermöglichte es, klimabedingte Hungersnöte in Westeuropa zu minimieren, da es möglich wurde, grosse Mengen an Getreide aus weit entfernten Gebieten (Südrussland/Ungarn) innerhalb nützlicher Frist und zu günstigen Preisen in die von regionalen Missernten betroffenen Gebiete Westeuropas jederzeit einzuführen. Zusätzlich führte der zunehmende Einsatz des zu Beginn des 20. Jhs. entwickelten Kunstdüngers zu höheren Ernteerträgen.

Hungersnöte tangierten nicht nur die physische Existenz des Einzelnen, sondern stellten auch das bestehende, stets labile Gesellschaftssystem in Frage. Viele vom Hunger betroffene Menschen verloren ihre gesellschaftliche Stellung und sahen sich zum Betteln bzw. zur Auswanderung gezwungen. Die durch die Hungersnot erlittenen existentiellen Erfahrungen verstanden die Menschen als Strafe und Mahnung Gottes. In diesem Zusammenhang ist die Entstehung und Verbreitung solcher Hungermedaillen zu sehen, welche die Überlebenden sowie deren Nachkommen anhalten sollte, ein gottgefälliges Leben zu führen. Die veranschaulichten horrenden Preise erinnern stets an das Unglück. Diese einseitig gefertigten und als Collage mit angeklebten Lanzettblättern zur Blüte gestalteten Medaillen wurden gerahmt im Haus aufgehängt.
Bekannt sind Hungermedaillen mit Stadtansichten von Zürich, Schaffhausen und Frauenfeld.

Bis zur gesamtschweizerischen Einführung von Meter, Liter und Kilogramm ab dem 1. Januar 1877 waren in der Schweiz verschiedene Messsysteme üblich. Getreide wurde bis zur Mitte des 19. Jhs. nicht gewogen, sondern mit Hohlgefässen abgemessen, wobei bis 1836 zwischen rauhen (Getreidekörner mit Hülsen) und glatten Früchten (entspelzte Getreidekörner) unterschieden wurde. Das Konkordat vom 17. August 1835 sah zum ersten Mal die Einführung einheitlicher Schweizer Masse und Gewichte für einen Grossteil der Deutschschweizer Kantone vor.

Die Zürcher Währung wurde in Gulden, Schilling und Haller unterteilt, wobei 1 Gulden (fl.) = 40 Schilling (Ss.) = 480 Haller (hlr.) entsprach.
In der Stadt Zürich galten 1817 folgende Masse und Gewichte:
1 Mütt Getreide = 4 Viertel; 1 Viertel glatt = 20,7 l; 1 Viertel rauh = 20,85 l
1 Saum Wein = 1 1/2 Eimer = 6 Viertel = 90 Mass = 141,3 l; 1 Mass (Schenkmass) = 1,57 l
1 Antwerper Handelspfund = 470 g
1 Centner = ca. 46 kg
1817/18
Papiermasse H. 22, B. 19 cm, Medaille D. 8 cm
Zinn, geprägt; Papier, bedruckt, geklebt
T 35891
Theodor Greyerz, Das Hungerjahr 1817 im Thurgau (Thurgauische Beiträge zur vaterländischen Geschichte, Bd. 57/58), 1918, S. 64–171.

Anne-Marie Dubler, Masse und Gewichte im Staat Luzern und in der alten Eidgenossenschaft, Luzern 1975.

Ueli Friedländer, Schweizer Medaillen aus altem Privatbesitz, Zürich 1989, Nr. 261 (Medaille auf Informationspapier geklebt).

Louis Specker, Die grosse Heimsuchung, Das Hungerjahr 1816/17 in der Ostschweiz (Neujahrsblatt, hrsg. vom Historischen Verein des Kantons St. Gallen, Bd. 133 und 135), Rorschach 1993 und 1995.

Historisches Museum Basel, Jahresbericht 1994, S. 41–42.

Fridolin Kurmann, Hungersnöte, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 16.02.2011. https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016226/2011-02-16/, aufgerufen am 20.06.2024.

Tobias Engelsing, Der gefährliche See, Wetterextreme und Unglücksfälle an Bodensee und Alpenrhein, Publikation zur gleichnamigen Ausstellung, Konstanz 2019, S. 63–71.

Stefan Keller, Spuren der Arbeit, Weinfelden 2020, S. 19–34.

Ruedi Kunzmann, Teuerungsmedaillen 1817/1819 von Zürich und Schaffhausen, Zeugen eines dramatischen Sommers, in: 10 Jahre Sincona AG, Zürich, Eine numismatische Festschrift, Regenstauf 2021, S. 117–126.
Schlagwörter: Numismatik, Kunsthandwerk, Zinn, Messwesen, Hauswirtschaft, Andenken, Erinnerung, Ereignis, Vedute