Scheibenstutzer nach dem System Martini, Hinterlader mit Senkblockverschluss, Schützenwaffe mit gesticktem Tragriemen, aus der Sammlung des Thurgauer Kantonalschützenverbands

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Runder brünierter gezogener Lauf, hinteres Fünftel oktogonal. Quadrantenvisier für Stellung von 200 bis 800 m, Korn mit Schwalbenschwanz. Oberband aus halbem Hülsenband als Abschluss des Vorderschafts, rechts Bajonetthaft, Stifthalterung. Geschweifter Abzugsbügel mit Fingerhaken, Kolbenkappe mit Stellhorn und Stellhornschraube. Riemenbügel am Vorderschaft beidseitig mit Stiften, auf Kolben am angeschraubten Montageblatt befestigt. Mitte des Vorderschafts weitere Schiebehalterung. Putzstockführung vorne unter Oberband, hinten Pfeife mit spitzem Einsatz im Schaft, dazwischen brüniertes Rohr. Putzstock fehlt. Zweiteiliger Nussbaumholzschaft mit geschwungenem Kolbenabschluss. Beidseitig am Schaft je vorne und hinten kantig gezogene, flache abgeschrägte halbrunde Fläche in der Verlängerung des Verschlusskastens (typische Gestaltung bei Martini-Gewehren, in Form einer Rahmung des Verschlusskastens).

Schläge: Auf Verschlusskasten Hersteller «MARTINI TANNER & Co FRAUENFELD», «MARTINI S PATENT» und Fabrikationsnummer «3173». Diese Nummer ebenso auf Lauf.

Tragriemen aus vorne und hinten schmalen braunen Lederbändern mit grossen Doppelniet-Knöpfen aus Messing zur Einstellung der Länge. Breites Mittelband mit floraler Stickerei aus Wolle und Glasperlen, umrandet mit schräg grün-rot gebänderter runder Borte, unterlegt mit rotem Lederband.

Zum Gewehr gehört eine runde Bleietikette an brauner gekordelter Garnschnur. Auf Etikette Reliefschrift, auf einer Seite «KELLER», auf anderer Seite «[...] SWEIL», «898» für 1898. Dabei handelt es sich um ein Gütesiegel des Herstellers. Der Schwiegervater von Martini, der Frauenfelder Arzt Keller, beteiligte sich anfänglich finanziell am Unternehmen «MARTINI TANNER & Co FRAUENFELD», weshalb sein Name auf der Etikette stehen könnte.
Beispiel eines seit 1869 an Schützenfesten gebräuchlichen, sogenannten Martini-Stutzers. Schusswaffen mit dem System, das Friedrich von Martini konstruiert hatte, kamen 1869 in Zug erstmals an einem eidgenössischen Schützenfest zum Einsatz.
Der in Ungarn geborene Konstrukteur und Erfinder Friedrich von Martini (1833–1897) studierte in Wien und Karlsruhe, bevor er beim Unternehmen Sulzer in Winterthur im Konstruktionsbüro tätig war. 1863 übernahm er gemeinsam mit Heinrich Tanner (1832–1898), dem technischen Leiter der Maschinenbauanstalt Frauenfeld, die mechanische Werkstätte Sulzberger & Pfister in Frauenfeld und gründete daraus das Unternehmen Martini & Tanner, das sich auf die Herstellung von Buchbinde- und Textilmaschinen, Motoren und Waffen spezialisierte. Ab 1865 arbeitete Martini an einer Weiterentwicklung des Peabody-Gewehrs, das er unter dem Namen Peabody-Martini-Gewehr anbot. Dabei verbesserte er das Zündsystem und änderte den Auswurf der Patronenhülsen nach dem Abschuss. Mit seinen Peabody-Martini-Standschützengewehren konnten Patronen des Vetterli-Gewehrs verschossen werden. Das Peabody-Gewehr mit dem Martini-Zündsystem wurden ab 1871 auch bei den britischen Streitkräften unter der Bezeichnung Martini-Henry-Gewehr eingeführt.
Stand- oder Scheibenstutzer waren präzise Waffen mit Stecherabzug für das sportliche Schiessen in einem Schiessstand. Sie erlebten im 19. Jh. grosse Popularität bei den zahlreichen Schützenfesten, die in der Eidgenossenschaft durchgeführt wurden. Organisiert wurden diese Anlässe von den Schützenvereinen, die vielerorts in der Schweiz gegründet wurden. So auch im Thurgau, wo 1835 der Thurgauische Schützenverein ins Leben gerufen wurde. Zum Gründungskomitee gehörte auch Prinz Louis Napoléon Bonaparte. Der Ehrenbürger des Kantons Thurgau, Bewohner von Schloss Arenenberg und spätere französische Kaiser Napoléon III., wirkte von 1838–1839 als Vorstandspräsident.
2005 erfolgte die Umbenennung vom Schützenverein zum Kantonalschützenverband. Lange Zeit trugen Vereinsmitglieder Andenken und Ehrengaben von Schiessanlässen zusammen und legten ein umfangreiches Archiv an, zu dem Schenkungen und Nachlässe von regionalen Thurgauer Schützenvereinen kamen.

2016 ging der vielfältige Bestand von ca. 500 Objekten (u.a. Scheiben, Fahnen, Waffen, Gefässe, Medaillen) in den Museumsbesitz über. Einzelne Sammlungsstücke werden seit Jahren in der Schützenstube im ehemaligen Gasthaus Adler in Ermatingen ausgestellt.
Martini, Friedrich von (1833–1897), Büchsenmacher in Frauenfeld
um 1870
L. 127 cm, Lauf L. 79.5 cm
Stahl, brüniert; Eisen; Nussbaumholz; Leder; Stickerei aus Baumwollgarn und Glasperlen; Messing
T 21868
Erhard Clavadetscher, Zwei Thurgauische Waffenpioniere (Thurgauer Jahrbuch, Bd. 38), 1963, S. 15–18.

Hans Brüderlin, Martini, Friedrich von, in: Neue Deutsche Biographie 16 (1990), S. 298-299. https://www.deutsche-biographie.de/pnd119257904.html#ndbcontent, aufgerufen am 22.04.2024.

Bruno Meyer, Friedrich von Martini, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 10.11.2011. https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/030490/2011-11-10/, aufgerufen am 22.04.2024.

Dirk Ziensig, Martini-Henry-Gewehre aus Witten an der Ruhr, Waffen und Kostümkunde (Zeitschrift für Waffen- und Kleidungsgeschichte, Heft 2), 2011, S. 167–210.

Stephen Manning, The Martini-Henry Rifle, 2013.

Angelus Hux, Eine neue Zeit kommt nach Frauenfeld, Ein Kulturmosaik des 19. Jahrhunderts, Frauenfeld 2024, S. 212.
Schlagwörter: Vereinswesen, Sport, Freizeit, Hauswirtschaft, Persönliches Accessoires, Waffen, Industrie, Gewerbe