Stutzer nach dem System Martini, Hinterlader mit Senkblockverschluss, Schützenwaffe aus der Sammlung des Thurgauer Kantonalschützenverbands

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Brünierter Rundkantlauf. Rechteckkorn mit Schwalbenschwanz (beides gebläut), eingeschlauft quer zum in Laufachse liegenden Kornträger, auf Laufschiene montiertes Quadrantenvisier mit langem Blatt und Stellung für 200 bis 800 m. Schaftabschluss vorne mit Hülse, befestigt mit Schieber, Putzstockrohr (Stock fehlt) und Bajonetthaft rechts zur Befestigung eines Jatagans nach der eidg. Ordonnanz 1864 (Säbelbajonett). Weitere Schieberbefestigung in Vorderschaft. Eisengarnitur aus geschwungenem Abzugsbügel mit Fingerhaken zum Aufklappen des Bügels, um den Verschluss zu öffnen, Abzug und Stecherabzug, angeschraubtes Bügelblatt, mit Klemmschraube befestigtem vorderem Riemenbügel und an Drehscharnier befestigtem hinterem schmalem Riemenbügel, Letzterer an angeschraubtem Montageblatt.
Zweiteilige Vollschäftung mit geschwungener Kolbenkappe, diese mit Stelldorn und Schraube. Beidseitig am Schaft je vorne und hinten kantig gezogene, flache abgeschrägte halbrunde Fläche in der Verlängerung des Verschlusskastens (typische Gestaltung bei Martini-Gewehren, in Form einer Rahmung des Verschlusskastens).
Geschwärzter Riemenbügel, hinten verstellbar, mit zwei Doppelniet-Knöpfen aus Messing.

Schläge: Fabrikationsnummer je auf Lauf und Verschlusskasten «3410». Verschlusskasten mit Angabe des Herstellers auf einer Seite «MARTINI & CO. FRAUENFELD», auf anderer Seite «MARTINIS PATENT». Auf Schraubenhülle vom vorderen Riemenbügel «8».

Kaliber: 10.5 mm

Zwei Bleietiketten, je an gekordelter Garnschnur, Etiketten beidseitig mit Reliefschrift, einmal mit Umschrift «Frauenfeld 18[?]0» und vermutlich Frauenfelder Wappen im Zentrum, auf anderer Seite «EIDG [?]» und Schweizerkreuz in der Mitte. Andere Etikette stark geplattet, erkennbar ist ein Schweizerkreuz und die Jahreszahl «1895». Womöglich handelt es sich um Abzeichen von Teilnahmen an Gewerbeausstellungen, so fand 1890 eine solche Schau in Zürich und 1895 eine in Kreuzlingen statt.

Die Waffe ist in der Art des Stutzers nach der eidg. Ordonnanz von 1864 geschäftet.
Schusswaffen mit dem System, das Friedrich von Martini konstruiert hatte, kamen 1869 in Zug erstmals an einem eidgenössischen Schützenfest zum Einsatz.
Der in Ungarn geborene Konstrukteur und Erfinder Friedrich von Martini (1833–1897) studierte in Wien und Karlsruhe, bevor er beim Unternehmen Sulzer in Winterthur im Konstruktionsbüro tätig war. 1863 übernahm er gemeinsam mit Heinrich Tanner (1832–1898), dem technischen Leiter der Maschinenbauanstalt Frauenfeld, die mechanische Werkstätte Sulzberger & Pfister in Frauenfeld und entwickelte daraus das Unternehmen Martini & Tanner, das sich auf die Herstellung von Buchbinde- und Textilmaschinen, Motoren und Waffen spezialisierte. Ab 1865 arbeitete Martini an einer Weiterentwicklung des Peabody-Gewehrs, das er unter dem Namen Peabody-Martini-Gewehr anbot. Dabei verbesserte er das Zündsystem und änderte den Auswurf der Patronenhülsen nach dem Abschuss. Mit seinen Peabody-Martini-Standschützengewehren konnten Patronen des Vetterli-Gewehrs verschossen werden. Das Peabody-Gewehr mit dem Martini-Zündsystem wurde ab 1871 auch bei den britischen Streitkräften unter der Bezeichnung Martini-Henry-Gewehr eingeführt.
Stand- oder Scheibenstutzer, wie das vorliegende Stück, waren präzise Waffen mit Stecherabzug für das sportliche Schiessen in einem Schiessstand. Sie erlebten im 19. Jh. grosse Popularität bei den zahlreichen Schützenfesten, die überall in der Eidgenossenschaft durchgeführt wurden.

Vorliegendes Exemplar schenkte der 1835 gegründete Schützenverein dem Museum. Zum Gründungskomitee des Vereins gehörte auch Prinz Louis Napoléon Bonaparte. Der Ehrenbürger des Kantons Thurgau, Bewohner von Schloss Arenenberg und spätere französische Kaiser Napoléon III., wirkte von 1838–1839 als Vorstandspräsident.
2005 erfolgte die Umbenennung vom Schützenverein zum Kantonalschützenverband. Lange Zeit trugen Vereinsmitglieder Andenken und Ehrengaben von Schiessanlässen zusammen und legten ein umfangreiches Archiv an, zu dem Schenkungen und Nachlässe von regionalen Thurgauer Schützenvereinen kamen.

2016 ging der vielfältige Bestand von ca. 500 Objekten (u.a. Scheiben, Fahnen, Waffen, Gefässe, Medaillen) in den Museumsbesitz über. Einzelne Sammlungsstücke werden seit Jahren in der Schützenstube im ehemaligen Gasthaus Adler in Ermatingen ausgestellt.
Martini, Friedrich von (1833–1897), Büchsenmacher in Frauenfeld
um 1870
L. 130 cm, Lauf L. 83 cm
Stahl, brüniert; Eisen; Messing; Nussbaumholz; Leder, geschwärzt
TD 215
Erhard Clavadetscher, Zwei Thurgauische Waffenpioniere (Thurgauer Jahrbuch, Bd. 38), 1963, S. 15–18.

Hugo Schneider, Schweizer Waffenschmiede vom 15. bis 20. Jahrhundert, Zürich 1976.

Hans Brüderlin, Martini, Friedrich von, in: Neue Deutsche Biographie 16 (1990), S. 298–299. https://www.deutsche-biographie.de/pnd119257904.html#ndbcontent, aufgerufen am 22.04.2024.

Dirk Ziensig, Martini-Henry-Gewehre aus Witten an der Ruhr, Waffen und Kostümkunde (Zeitschrift für Waffen- und Kleidungsgeschichte, Heft 2), 2011, S. 167–210.

Bruno Meyer, Friedrich von Martini, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 10.11.2011. https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/030490/2011-11-10/, aufgerufen am 22.04.2024.

Stephen Manning, The Martini-Henry Rifle, 2013.

Angelus Hux, Eine neue Zeit kommt nach Frauenfeld, Ein Kulturmosaik des 19. Jahrhunderts, Frauenfeld 2024, S. 212.
Schlagwörter: Vereinswesen, Sport, Freizeit, Hauswirtschaft, Persönliche Accessoires, Waffen, Industrie, Gewerbe