Vier Hungerbrötchen, Andenken an die Hungersnot von 1817

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Vier «Bürli» in Miniaturform. Etikette mit Aufschrift «Musterbrödchen von 1817 das Ganze à 4 Kr.».
Das Jahr 1816 ging in weiten Teilen West- und Südeuropas sowie der USA als das «Jahr ohne Sommer» in die Annalen ein. Grund dafür waren die riesigen Mengen aus Asche- und Russpartikel, welche ein Jahr zuvor, im April 1815, beim Ausbruch eines Vulkans auf der Insel Tambora in Indonesien in die Atmosphäre gelangten und die Sonneneinstrahlung über längere Zeit reduzierten. Es war die grösste Eruption der Menschheitsgeschichte. Das Klima in Europa und auf dem nordamerikanischen Kontinent wurde davon massiv beeinflusst. Viel Regen, Kälte und Schnee waren die Folgen, was zu Missernten und einer damit einhergehenden Lebensmittelteuerung führte, weshalb die Preise um das Drei- bis Vierfache stiegen, verglichen mit jenen von 1815. Die Klimakatastrophe brach über eine Bevölkerung herein, die bereits ökonomisch geschwächt war, weil die napoleonische Handelssperre die Textilproduktion lähmte, da die dazu benötigte Baumwolle nicht mehr eingeführt werden konnte, weshalb den Fabrik- und Heimarbeitern die Arbeit ausging. 1814 schliesslich, als die Blockade aufgehoben wurde, waren die Erzeugnisse der heimischen Textilindustrie den günstigeren maschinell hergestellten englischen Produkten unterlegen. In der Schweiz war die Notlage vor allem im Osten verheerend, im Thurgau litten die Menschen besonders in der bergigen Gegend um Fischingen an Hunger. Der Mangel trieb die Leidenden dazu, Kleie, Spelzen, weitere Müllereiabfälle, Kräuter und Grass zu essen. Es kam zu Plünderungen von Beinhäusern mit Überresten aus den Burgunderkriegen (15. Jh.), um die Gallerte aus den Knochen auszukochen.
Der Kanton Thurgau bot zögerlich Hilfe an in Form von Suppenküchen und Kartoffellieferungen. Zar Alexander I. spendete 1817 dem Thurgau 4000 Rubel (ca. 12 000 zeitgenössische Schweizer Franken).
Erst der Ausbau des Schienennetzes für die Eisenbahn in der 2. Hälfte des 19. Jhs. ermöglichte es, klimabedingte Hungersnöte in Westeuropa zu minimieren, da es möglich wurde, grosse Mengen an Getreide aus weit entfernten Gebieten (Südrussland/Ungarn) innerhalb nützlicher Frist und zu günstigen Preisen in die von regionalen Missernten betroffenen Gebiete Westeuropas jederzeit einzuführen. Zusätzlich führte der zunehmende Einsatz des zu Beginn des 20. Jhs. entwickelten Kunstdüngers zu höheren Ernteerträgen.

Hungersnöte tangierten nicht nur die Lebensmittelversorgung jedes Einzelnen, sondern stellten auch das bestehende, stets labile Gesellschaftssystem in Frage. Viele vom Hunger betroffene Menschen verloren ihre gesellschaftliche Stellung und wurden zum Betteln bzw. zur Auswanderung gezwungen. Die durch die Hungersnot gemachten existentiellen Erfahrungen wurden von vielen Menschen als Strafe und Mahnung Gottes verstanden. In diesem Zusammenhang ist die Entstehung von Andenken an diese Zeit wie Hungermedaillen und -brötchen zu sehen, welche die Überlebenden sowie deren Nachkommen an ein gottgefälliges Leben gemahnen sollten. Die Memorabilien wurden dekorativ gestaltet und im Wohnbereich platziert.
Um den Preis des Gebäcks in der Not stabil halten zu können, wurden die Brötchen in einem immer kleiner werdenden Format gebacken. Einen anderen Weg schlugen die Behörden in der Westschweiz ein, wo die Brötchengrösse zwar beibehalten wurde, der Preis des Grundnahrungsmittels jedoch angehoben wurde.
1817
Alle vier zusammen H. 4, B. 8.5, T. 8.5 cm
Brot; Papier; vakuumverpackt in Kunststoff
T 9736
Historisches Museum Basel, Jahresbericht 1994, S. 41–42.

Beat Gnädinger, Gregor Spuhler, Frauenfeld, Geschichte einer Stadt im 19. und 20. Jahrhundert, Frauenfeld 1996, S. 42, Abb. 1.

Tobias Engelsing, Der gefährliche See, Wetterextreme und Unglücksfälle an Bodensee und Alpenrhein, Publikation zur gleichnamigen Ausstellung, Konstanz 2019, S. 63–71.

Stefan Keller, Spuren der Arbeit, Weinfelden 2020, S. 19–34.
Schlagwörter: Hauswirtschaft, Brauchtum, Essen, Ereignis, Tod, Andenken, Erinnerung