Akkordeon (Ziehharmonika) «Castelfidardo», Geschenk eines italienischen Kaufmanns an seine in der Schweiz lebende Enkelin

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Mittelgrosse Handorgel aus Italien. Inschrift des Herstellers fehlt, die Prägung «Quagliardi» ist noch auf dem Kunststoff zu erkennen. Oberfläche des Akkordeons aus rotem, teils glänzendem Schildpatt-Imitat, teilweise Kleberückstände.

Sogenanntes Piano-Akkordeon ohne Register. Pianotastatur auf dem Diskantteil mit zehn schwarzen und 15 weissen Tasten, wobei die schwarzen Tasten aus dem gleichen roten Kunststoff gefertigt sind wie die Oberfläche des Akkordeons.
Diskantverdeck unterhalb der Klaviatur aus rotem Kunststoff mit vier Schrauben befestigt. Das Diskantverdeck weist musterartige Einschnitte auf, die den darunter liegenden, weissen und glitzernden Stoff zeigen.
Zwei lederne Schulterriemen an metallenen Haken. Die Schulterriemen sind in der Länge verstellbar und dienen beim Spielen zur Befestigung des Akkordeons am Oberkörper.

Bassteil des Akkordeons mit 24 runden, weissen Knöpfen, angeordnet in drei leicht versetzten Reihen. Am Bassteil vorne oben links befindet sich das Logo des Modells in weisser Schrift. Eingelassener metallener Drehknopf. Auf der Unterseite des Bassteils (gleichzeitig Unterseite des stehenden Akkordeons) in jeder Ecke ein Füsschen.
In der Mitte der Unterseite ist ein breiter Lederriemen angebracht, durch diesen wird beim Spielen die Hand geführt, um das Akkordeon zu halten, während die Finger die Knöpfe betätigen. Schwarzer Schaltknopf. Auf der hinteren Unterseite sechs Ausschnitte in Form von Kreisen mit darunter liegendem Stoff.

Zwischen Diskantteil und Bassteil befindet sich der Balg, mit braunem Leder und Stoff bezogen, Ecken mit Metall verstärkt. Durch Öffnen und Schliessen des Balges wird ein Luftstrom erzeugt, welcher zur Tonerzeugung führt. Lederriemen und Druckknopf, um den Balg zu verschliessen.
Castelfidardo ist eine italienische Gemeinde in der Region Marken, in der Provinz Ancona. Der Ort hat eine lange Tradition in der Herstellung von Akkordeon-Instrumenten, davon zeugt heute ein Akkordeon-Museum. Ausgehend von der traditionellen Akkordeonherstellung werden in Castelfidardo wie auch im Umland seit den 1960er-Jahren auch elektronische Orgeln produziert.

Der Kaufmann Benvenuto Leonardo Grisenti (1903–1973) aus Trient, Südtirol, kaufte das Akkordeon 1962 einem Wanderer in Bozen ab. Grisentis Sohn war 1950 in die Schweiz ausgewandert, wo er als Schuhmacher arbeitete. In Winterthur lernte er seine zukünftige Frau kennen, die zufälligerweise auch aus Trient stammte. Ihre Kinder, die Enkelkinder von Benvenuto Leonardo Grisenti, wuchsen in der Schweiz auf – ihre Grosseltern in Italien konnten sie höchstens ein Mal im Jahr besuchen. Eine der Enkelinnen sah ihren Grossvater erst mit sieben Jahren zum ersten Mal. Als Neunjährige erhielt sie 1962 bei einem Besuch in Italien von ihrem Grossvater das Akkordeon als Geschenk. Sie hatte zwar nie darauf gespielt, sondern ihr Bruder. Das Akkordeon besass für sie aber einen grossen emotionalen Wert und war eine Erinnerung an den Grossvater, den sie aufgrund der geografischen Distanz nur selten sehen konnte.

Das Musikinstrument erzählt die Geschichte vieler Menschen aus Italien, die in den 1950er- und 60er-Jahren in die Schweiz kamen und zwischen zwei Kulturen lebten. Italienerinnen und Italiener bildeten lange die grösste Einwanderergruppe in der Schweiz. Einen Höhepunkt erreicht die Einwanderungswelle in der Hochkonjunktur nach dem Zweiten Weltkrieg. In Italien wurden Gastarbeiter, die sogenannten Saisonniers, aktiv angeworben. Viele Italienerinnen und Italiener fanden in der Schweiz eine neue Heimat, gründeten hier Familien und eigene Unternehmen. Die in den 1960er-Jahren teils ablehnende Haltung gegenüber der Migration aus Italien wandelte sich in den letzten Jahrzehnten. Heute ist Italianità, beispielsweise in der Mode oder Gastronomie, ein Teil der Schweizer Kultur.
Orlando Quagliardi (1921–1981) in Castelfidardo, Hersteller von Akkordeons, später unter dem Namen Welson elektrische Gitarren und Synthesizer
ab 1921–1962
L. 30.5, B. 19.5, H. 32 cm
Kunststoff, Holz, Stahl, Messing, Leder, Baumwolle
T 38911
Carlo Moos, Mauro Cerutti, Italien, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 27.06.2016. https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/003359/2016-06-27/, aufgerufen am 05.08.2025.
Schlagwörter: Musik, Reisen, Freizeit, Erinnerung, Hauswirtschaft